Schloßstraße 17

Zum Glück gab es damals WG's.

Und zum Glück gab es damals Vermieter, die sich auch als unsere "Betreuer" empfanden.

Wir brauchten sie dringend.

WG a gogo

 „Ey wach auf. Hey!“
Er hob den Kopf. Gerade so viel wie sein mußte.
 „Was sind das für Glasscherben hier?“
Er legte noch zwei Zentimeter zu, versuchte einen Optik-Check und gab auf.
 „Das ist zu früh. Man.“
 „Wieso hast du die ganzen Bierflaschen an die Wand geworfen? Man, sogar auf dem Regal sind welche.“
 „Oh Gott.“
 „Was, oh Gott?“
 „Mein Kopf.“
 „Kaffee?“
 „Kaffee. Leise. Immer leise!“
Er rollte sich und stand auf.
 „FUCK.“
Der halbe Boden war voller Scherben. Das war eine lange Nacht gestern. Musik machen war einfach ein anstrengender Job, wenn man davon keine Ahnung hat und es trotzdem nicht lassen kann. Er erinnerte sich noch, versucht zu haben Bierflaschen zerplatzen zu lassen, um das Geräusch aufzunehmen. Das sollte der Background für sein neues Stück „da da ist tod“ werden. Den Text hatte er sich bei Kurt Schwiters geklaut. Irgendwas lief da schief gestern abend.
 „Hey, was sind das für Glasscherben hier?“
 „Das habe ich dich gefragt.“
 „Scheiße.“
Er schaffte es auf das Klo und zog ab. Jetzt war ihm schon besser. Aus der Küche duftete der Kaffee. Das Frühstück. Mehr brauchte er nicht. Und mehr gab der Kühlschrank auch selten her.
 „Wo ist Beffi?“
 „Schläft noch.“
 „Weiß du, ich kann einfach nicht mit Reggae. Ist mir irgendwie zu lahm. Zu verkifft. Da ist keine Aktion drin. Kein Haß, keine Liebe, keine Verzweiflung, kein Maximum. Es ist immer vernebelt und konturlos.“
 „Aber ER kann wenigstens Gitarre spielen.“
 „Schon, aber warum muß er immer Reggae spielen? Nur weil er Rastas hat?“
 „Vielleicht gefällt es ihm ja.“
 „Ist einfach nicht mein Ding.“
 „Noch 'n Kaffee?“
Sie saßen noch ein wenig und versuchten klar zu werden. Jeder für sich. Er dachte, warum hat uns Gott vergessen? Wir sind doch auch nicht schlimmer als die Anderen. Eigentlich sogar besser.
Wir klauen nicht. Wir lügen nicht. Wir zocken nicht ab. Wir haben kein Bankkonto. Und wir waren klar bei Verstand. Warum hassen die uns alle? Weil wir SIE hassen? Er kam nicht dahinter.
 „Ich spül mal ne Runde.“
 „Komm gleich und trockne ab.“
Das seltsame an dieser WG war, daß immer jemand spülte. Was jedoch zu keinerlei optischen Ergebnissen führte.
 „Das ist ein Phänomen.“
 „Was?“
 „Das hier.“
 „Hey, du solltest einfach aufhören die leeren Flaschen zu zerdeppern.“
 „Du hast keine Ahnung von gutem Sound.“
 „Unser Staubsauger ist kaputt.“
 „Mhmm.“
Er wußte, daß er keine Chance hatte. Er war hier der einzige, der den Zauber einer Bierflasche schätze, wenn sie zersprang. Vor allem, wenn man das ganze aufnahm, auf 8 Bit runterjodelte und es mit 1/16tel der Originalgeschwindigkeit abspielte. Leicht mit Hall unterlegt und einem extrem langem Pre-Delay gab das ein Konzert in Zeitlupe.
Das beste daran war jedoch, daß in dem Gang zur Küche immer 300-500 leere Bierflaschen rumstanden. Billiger konnte er das gar nicht haben. Problematisch wurde es jedoch, wenn mal wieder jemand den Putzrappel kriegte, sich die WG ein Auto lieh und eine Luftbrücke zum nächsten Glascontainer organisierte.
In der Regel versuchte er es dann mit Wellblech und Schmutzabfanggittern aus städtischen Gullys.

Der Rest der Besatzung trudelte ein. Einer sah schlimmer aus als der Andere. Es war Sonntagmittag. Treffpunkt Küche war wichtig. Denn erstens gab es da Kaffee und zweitens galt es den Rest des Abends zu planen und dafür Geld zu sammeln. Meistens kam dabei nicht viel rüber, da die meisten die vorherige Samstagnacht damit verbrachten, ihre letzten offiziellen Zahlungsmittel auf zwielichtigen Konzerten anderen zu überlassen.
Er sparte sich das und bevorzugte lieber Eigenkompositionen daheim.
 „Morgen.“
 „Ähhee.“
 „Was sind denn das für Trommeln auf dem Gang?“
 „Pitikullus.“
 „Sind die wieder hier?“
 „Gestern Nacht gekommen.“
Pitikullus war eine Band. Eine Ostband. Seit dem Mauerfall fielen sie auch regelmäßig über unsere WG her. Die Jungs waren immer hungrig. Waren sie da, konnte man unseren Kühlschrank praktisch ausschalten. Da gab es nix, was länger als 5 Minuten überlebte. Kühlung war überflüssig.
Aber sie waren fair. Hatten sie mal Geld, füllte sie auch wieder auf.
Da die Band viele Mitglieder hatte, wurden sie einigermaßen gleichmäßig auf alle Zimmer verteilt. Jeder von uns bekam ein paar ab. Das Problem war, daß das gesamte Haus in der Zeit ihres Besuches zum Proberaum wurde. Hatte keiner was dagegen, jedoch Pitikullus war eine Mittelalter-Band. Metholytisch gestimmte Drehleiern und 13/8tel Rhythmen sind halt nicht jedermanns Sache.
Das Hauptproblem jedoch war, daß vor 2000 Jahren wohl jemand festlegte, daß Musiker nur Nachts proben dürfen. Pitikullus war ok. Irgendwann machten wir einen Gegenbesuch bei ihnen in Dresden.

Nur so, zur Revanche.

Wir saßen in der Küche und die Hälfte von uns hatte schon einen Tunnel aus ihrem kominösen Zustand in das Hier & Jetzt gefunden. Da tauchte Stoppel auf.
Stoppel war der Vermieter. Er und seine Frau waren Sozialpädagogen mit Herz. Sie wohnten ganz oben. Unterm Dach. Stoppel lachte so oft wie wir und wenn er lachte, klang es ehrlich. Er war eine Respektsperson. Jetzt stand er in der Küchentür und hatte den „Press-Mund“. Das hieß nichts Gutes. Press-Mund war immer Scheiße bei Stoppel. So wurden wir um 3 Zentimeter kleiner. Schon mal rein prophylaktisch.
Vier Zentimeter wären arschkriecherisch gewesen. Das war mit uns nicht drin.
„Drei“ waren das höchste Maß und Stoppel war einer der wenigen, der es bekam. Zu Recht.
Was wir auch anstellten, und davon gab es viel, er brüllte uns niemals an. Er achtete immer unsere Würde als Idioten. Jedoch er hatte andere Methoden uns fertig zu machen. Über den Press-Mund gab es bei ihm noch eine Stufe drüber und das war Press-Mund kombiniert mit vorgeschobenen Kinn und einem traurigen, abschweifenden Blick. Das war schlimmer als Dachlatte auf Hinterhirn und wir waren dann immer versucht, ihm die unmöglichen „Vier“ zu geben. Diesmal blieb es jedoch bei Press-Mund. Mußte also was „normales“ sein, was wir angestellt hatten.
 „Wer war zuletzt in der Schreinerei im Keller?“ preßte er hervor.
Mein Gott, die meisten von uns wußten noch nicht einmal, wo ihre Synapsen gerade JETZT waren. Stoppel hob langsam, in Würde und Andacht, wie der Katholik sein Fixi-Kruzi, ein Stemmeisen vor sein Gesicht. Und damit vor unseren. Es war still. Auch wir hatten mitunter unsere religiösen Momente.
 „Das war mal ein Stecheisen!“
(Als Tontechniker würde ich jetzt an diesen Satz mindestens eine 30sekündige Hall-Fahne ranhängen.)
Wir schwiegen. Bereit auf 4,5 zu gehen. Wenn’s denn sein muß und sonst nix mehr hilft.
Es war unverkennbar: dieses Stecheisen war jetzt ein Schraubenzieher.
 „Wer hat DAS umgeschliffen?“
(Hall-Fahne: 40 Sekunden.)
Wir saßen in der Falle. Das war ganz klar. Wir beobachten sein Kinn um die Lage zu peilen. Es blieb hinten. Offenbar bekamen wir noch einmal eine Chance.
Aber jetzt noch nicht.
 „Das war ein Kirschbaum-Stecheisen!“
(Hall: 10 Sekunden. Das wichtigste schien gesagt.)
In Anbetracht der Lage bekam er eine 3,8 von uns. Das waren wir ihm schuldig.
Stoppel verschwand und jemand fragte:
 „Gibt’s hier irgendwo noch Milch?“


(In Angedenken und zu Ehren der „Schloßstraße 17“ in Hechingen und seiner Menschen)