Markus und der Wolf

Markus Wolf, Sohn des Arztes und Schriftstellers Friedrich Wolf, war lange Zeit Chef der Auslandsaufklärung der DDR. Er lebte eine Zeitlang in Hechingen, wo sein Vater eine Praxis unterhielt. Hin und wieder besuchte er diesen Ort seiner Kindheitserinnerungen, was regelmäßig eine heftige, über Leserbriefe der lokalen Presse ausgetragene, Diskussion mit sich brachte. Die einen sahen den Besuch des ehemaligen „zweiten Mannes“ im STASI – Staat moderat, die anderen waren empört. Auch ich hatte vor mich mit folgendem Leserbrief daran zu beteiligte.
Ich schickte ihn nie ab.

Ja, man kann inzwischen seine Uhr danach stellen: Alle Dekade taucht hier, in Hechingen, ein Phantom namens Wolf auf und immer wieder die selber Leute kriegen schier einen Herzinfarkt, als ob sie der Leibhaftige persönlich berührte. Wenn das nicht so langweilig wäre, man müßte es übersehen.


Langeweile muß aber nicht sein, deshalb gibt es jetzt mal ein paar Worte aus der Sicht eines Betroffenen: Die Hälfte meines Lebens habe ich in einer Diktatur verbracht. Sie nannten das DDR. Ich auch. Ich war Opfer und ich war Täter, wenn Sie es so wollen und darauf anlegen. Vor Wolf habe ich dabei nie Angst gehabt. Vor „Ich liebe euch doch alle“ - Mielke schon, denn nichts ist schlimmer als Macht gepaart mit Dummheit. WIR wußten ja gar nicht, wer der Wolf war. So geheim war der. Würde mich freuen, wenn der jetzt mal das Maul aufkriegt, statt es, wie hier oft gefordert, zu halten. Vielleicht kann er das aber gar nicht, sonst macht der hier noch den „Barschel in de Püt“ Abgang. Ja, Geheimdienste sind immer ein unergiebiges Thema. Leider gibt es sie. Und Gott sei Dank bleiben sie mir inzwischen vom Halse.


An alle trotzdem Interessierten ist mein Rat: nehmen Sie da mal ein bißchen Gas weg. Der kalte Krieg ist vorbei. Alles was uns jetzt noch hilft ist erkennen, verstehen und versöhnen. Sonst klappt das nie mit der Wiedervereinigung. Die findet nämlich im Herzen und im Kopf statt. Und nicht über den Kontoauszug. Und erst recht nicht über die Moral. Wir alle waren damals Kinder unserer Zeit. Wir alle haben unsere Gehirnwäsche bekommen. Vorwaschgang, Hauptwaschgang und für die ganz Harten: Trocken-schleudern. Auch der böse Wolf. Gefragt wurden wir nicht. Sich dem zu entziehen war schwer, in der DDR.


Den Gang in die „innere Immigration“, wie von berufener Seite vorgeschlagen, war für uns damals der geistige Krückstock der alten Garde. Wir aber waren jung. Wir wollten die Welt verändern. Revolution war angesagt. Drunter machten wir es nicht. Elfenbeinturm-Romantik war da nicht drin. Das hatte was von Opportunismus. Das hatte was von Weimarer Republik. Da war zu wenig Dampf dahinter. Versuchte man sich trotzdem zu entziehen, lernte man Mielkes Deppen-Armee sehr schnell kennen. Bekanntlich fraß die Revolution ihre eigenen Kinder ja zu erst. Das Kind ist dann sehr schnell gestorben. Innerlich, moralisch, komplett.


Sie ahnen nicht, wie deplaziert man sich vorkommt, wenn ein durchgeknallter Phsycho in Uniform einem im Keller die Makarow ansetzt und dabei die Ohren voll brüllt, daß es eine wahre Freude ist, während ein Anderer einem permanent zutextet mit Sprüchen wie: man sei ja nicht der Erste, der als Vermißt gilt usw. Nun, mit 18 Jahren hat man einfach keine Zeit für diesen Blödsinn. Jedoch, man ist dann wieder gut informiert und „funktioniert“. Moral kommt da nicht vor. Freiheit der Entscheidung noch weniger. Da heißt es nur noch: „Jawohl Herr Oberdeppenführer. Geht in Ordnung, Herr Blockschleimwart. Sie haben den Größten Herr Gaukotzleiter. Rührer befiel, wir knien schon mal hier.“ Mehr ist da nicht.
Aber, es gab auch völlig andere Wölfe im Nerzmantel. Erinnern Sie sich noch an Gregor Gysi? Genau, das ist der Typ, der heute nur noch als die rote Socke von der PDS gehandelt wird. Niemand weiß heute und niemand fragt danach, was ihn, als unser Anwalt, so umtrieb. Damals in Ost-Berlin, dort unten im Keller. Der hat uns raus geholt, der war ansprechbar, der war da. Moral beschwingte „Bürger der BRD“ waren dort unten weniger vertreten, um uns vor diesen selbst ernannten Weltrettungsbeauftragten der Mielke-Arschgeigen zu schützen. Sie werden Gysi, der mit einem Bein selber permanent im Knast stand, weil er es wagte uns junger Hüpfer oder Staatsverbrecher, je nach Sichtweise, zu verteidigen, niemals danach fragen. Denn auch Gysi ist für viele einer, der DABEI war. Klar war er das. Das gehörte zum Job. Ohne Kontakte zum System, hätte der gar nichts für uns tun können. Drei Monate hat er für mich raus geholt und das in einer Diktatur, wo das Urteil schon am Tag der Verhaftung feststand. Das ist Leistung. Was interessiert es mich da, ob er einen Deal machte. Wenn gemistet wird stinkt‘s halt. Mir war das egal. Hauptsache raus aus diesem Loch. Und zwar schnell. Für einige, werden Gysi & Co jedoch weiterhin die moralisch Befleckten sein und bleiben. Sei es drum, für mich war er ein Anwalt in Not. Und er war gut. Ein Überblicker vor dem Herrn. Ein Praktiker mit den richtigen Telefonnummern.
Für uns Kinder des Ostens, auf der dunkleren Seite Deutschlands, war Moral dabei ganz weit weg. Ganz weit im Westen. Dort wo man sich das leisten konnte. Bei denen, die das Glück hatten woanders geboren zu sein. Bei denen, für die wir irgendwo hinter Sibirien wohnten. Bei denen, die uns zu Weihnachten Kaffee und Schokolade schickten. Bei denen, die uns sagten: Kopf hoch, wird schon wieder. Bei denen, die zum billig Einkaufen mal eben „rüber“ schlappten. Bei denen, die einem sagten, kaum ist einem die Flucht geglückt, unter Adolf hätte es euch nicht gegeben. Bei denen, die uns heute noch für etwas unterbelichtet halten und sich wundern, daß wir lesen und schreiben können. Bei denen, denen die Amis eine Milliarde schenkten, während die Russen bei uns die letzten Hochöfen abmontierten. Wohlmeinend wir müßten da noch Kriegsschulden bezahlen. Und, wenn man schon dabei sei, für den Westen gleich mit.


Moral? Für uns war das ganz, ganz schwierig. Wir hatten andere Sorgen. Wir mußten all die Wolfs und Mielkes überleben. Und uns selbst. Trotzdem ist vielen von uns das Kunststück geglückt, diese Leute und uns, heute nicht mehr dafür zu hassen. Da kann man von uns Jammer-Ossis noch was lernen. Wir waren/sind wirklich stark. Auch moralisch, wenn es eng wird.
Vergessen Sie Wolf. Der ist unwichtig. Wichtig sind die vielen Menschen, die mit gejodelt haben. Menschen wie ich. Wir sind die Schuldigen. Wolf ist nur ein armes Würstchen mit schlechtem Gedächtnis und einem unverschämten Grinsen im Gesicht.
Aber immerhin zog er als Humanist durch die Gegend. Er hätte auch Werbung für die PDS machen könnten. Machte er aber nicht. Das ist doch schon mal was. Vielleicht hatte auch der Wolf dazu gelernt.
Nun gut, die meisten haben das alles überlebt und unsere Kindheit war erst mal für den Arsch. Die Psychiater dieser Welt reiben sich schon seit langem die Hände und hören die Kassen klingeln ob der 17.000.000 Neu-Kunden mit ihren Ostneurosen. Gibt es inzwischen ja Spezialisten für. Wenn Sie interessiert sind an deutsch/deutscher Geschichte, sagen Sie mir Bescheid. Ich hätte da noch 300 Seiten Stasi-Plausch-Protokolle zum Thema: Wie hätten Sie ihre Nieren gern? Geschüttelt oder püriert?“ Ist für Sie vielleicht interessanter, als das Gesülze vom Wolf. Zu mindestens kommt da das Wort Moral erst gar nicht vor.


Ich finde die Beschäftigung einiger Hechinger Bürger mit unserer Vergangenheit, sehr interessant und erfrischend. Vielleicht hat der Besuch vom Wolf doch noch was gebracht. Wie immer das jetzt ausgeht, vergessen Sie dabei nie: es waren die Menschen in der DDR, die eine Diktatur mit friedlichen Mitteln und ohne Blutbad zu Fall brachten. Daran beteiligt waren AUCH viele Stasi-Offiziere und Soldaten, die NICHT schossen, obwohl Mielke, die blöde Sau (kann man gar nicht oft genug sagen), den Schießbefehl schon fast unterschrieben hatte. Leider konnte Wolf diese Geschichten nie erzählen. Dazu hatte er hier auch keine Chance, weil sie ihm sofort MORAL ins Gesicht brüllen, sobald der nur „atta“ sagt.
Vergessen Sie Moral! Dieses Wort ist eine leere Hülse. Sie wird jeden Tag ausgequetscht und neu gefüllt. Da geht es zu, wie im Supermarkt vor Weihnachten. Ich höre schon: „Moral ist Geil! Marsch, Marsch, Marsch!“ Oder: „Schon heute an die Moral von morgen denken.“ Offenbar pegelt sich dieses Land auf ein Niveau ein, daß über die Erfindung des „Dauer-Tief-Preis“-Gemoppels nicht hinaus kommen will. Ich find es lustig und amüsiere mich immer wieder auf das Neue, wie einfach hier alles funktioniert. Da kann vor unseren Augen ein Penner erfrieren, aber wenn ein Langweiler wie der Wolf auftaucht, gibt es revolutionär-moralische Anfälle zum anfassen. Sehr interessant.


Ernsthafteren Geschichts-Hobbyforschern im Gau, mit Anspruch auf das M-Wort, sei das Archiv im Hechinger Rathaus ans Herz gelegt. Ganz tief unten. Da gibt es viel zu entdecken. Sowohl vor 45 als auch nach 45. Seit ich jetzt hier Euer „Gast“ bin, höre ich da immer wieder irgendwelche Geschichten. Was ist damals passiert in Eurer Stadt? Was ist passiert, als IHR schwach wurdet? Was war EURE dunkle Kindheit? Da war nix? Pustekuchen? Wiederstand? Alle? Ja dann ... ähm ... Schuldigung.
Jetzt schauen wir aber mal, daß wir hier fertig werden, denn ich muß noch in die Stadtbibliothek. Denn Buch ist immer gesund. Hilft gegen Mielke-rietis und Göbbel-rose.

Man sieht sich.