Interview - Fragen von Schülern
Im Lockdown der Corona-Pandemie fiehlen meine DDR-Zeitzeugenvorträge an Schulen aus.
Manchmal gelang ein Online-Vortrag. Manchmal nicht. In einem Fall, behalfen sich Lehrer, Schüler und ich
mit einem Ferninterview. Der Ablauf: die Schüler studierten meine Internetseiten und sonstiges Material zur
Geschichte der DDR und schickten mir ihre Fragen. Selbige beantwortete ich dann schriftlich und schickte sie zurück.
Hier das Ergebnis.
Frage: Glauben Sie, schon vor dem Ereignis mit der Zeitung überwacht worden zu sein?
Nein. Ich war ein kleiner Fisch im System und fiel die meiste Zeit nicht auf. Wer sollte sich schon für mich „interessieren“? Dachte ich damals, sagen wir mal, mit 16 Jahren.
Ich erinnere mich jedoch in der 12.Klasse einmal Flugblätter zum Thema Umweltschutz hergestellt und an der Schule inkognito verteil zu haben. Inkognito war wichtig, da es in der DDR offiziell keine Umweltverschmutzung gab, und somit der Aufruf zum Umweltschutz behauptete, es gäbe sie doch. War also ein heißes Eisen das Thema. Eine Provokation. Am Tag nach der Flugblätter-Aktion war die Stasi an der Schule und verhörte die Schüler, auf der Suche nach dieser „illegalen Umweltschutzgruppe“, welche da Flugblätter verteilt und seltsame Ansichten verbreitet.
Foto: Flugblatt zum Thema Umweltschutz, das ich an der Schule verteilte
Ich stieß damit in ein Hornissennest. Die „Suche“ der Stasi an der Schule galt jedoch nicht mir persönlich, sondern einem „Flublatt-Vorgang“. Überwacht kam ich mir dabei nicht vor. Eher ausgebremst und ernüchtert. Die damit verbundene Ansage von oben hieß für mich: du hast Gedanken, Vorschläge, Visionen … du willst die Welt gestalten? Gut, aber nur MIT uns.
Und niemals ohne uns. Dies war in der DDR mein Lebensgefühl. Die Angst kam später.
Frage: Wie kam es zur Trennung Ihrer Eltern?
Meine Mutter beantragte die Scheidung als ich etwa 8 Jahre alt war. Dem ging ein einjähriger
permanenter „Kriegszustand“ zu Hause voraus. In dieser Zeit habe ich meine Eltern hauptsächlich als brüllend, schreiend, schlagend, und gegenseitigen Vasen und Pfannen werfend in Erinnerung.
(Ich erinnere: eines Abends nach dem wir zu Bett geschickt wurden, packten mein Bruder und ich unsere kleinen Kinderrucksäcke und versteckten sie unter dem Bett. Alles was wichtig war kam hinein, Teddybären, Süßigkeiten, was man so braucht zum Überleben. Wir nahmen uns vor, wir bleiben wach und wenn die Zwei aufhören zu streiten und einschlafen, hauen wir ab. Egal wohin. Jedoch wir schliefen selber ein, und am nächsten Tag ging die „Schlacht“ von vorne los.)
Ich war froh über die Scheidung. Danach kehrte etwas Ruhe ein. Später erfuhr ich, mein Vater war offenbar ein Mischung aus Soziopath, Heiratsschwindler und Kleptomane, der einige Jahre im Gefängnis und in der Psychiatrie verbrachte. Er war trotzdem ok, aber ich war froh, daß er weg war.
Und meine Mutter? Na ja, sie war jetzt alleinerziehend, und voll berufstätig damit beschäftigt ihr eigenes Leben und unseres durch zu kriegen. Was ihr auch gelang. Für emotionale Bindungen war jedoch kaum Zeit und Gelegenheit, da wir Kinder öfters zu Hause waren als sie,
und sie, von der Arbeit kommend, meist angenervt war. So wuchsen mein Bruder und ich relativ alleine auf. Was große Freiheiten mit sich brachte, und Selbstständigkeit von uns einforderte.
Frage: In wie weit griff die DDR schon während der Schulzeit in Ihr Leben ein? Haben Sie es bemerkt?
Der Eingriff des DDR-Staates in mein Leben war permanent und allgegenwärtig. Daraus machte er auch kein Geheimnis. Ich mußte es deswegen erst gar nicht „bemerken“, es wurde mir direkt in das Gesicht gesagt. O-Ton an der Schule: Ihr seit nicht nur hier um zu lernen, sondern auch und vornehmlich, um zu allseitig gebildeten sozialistischen Persönlichkeiten erzogen zu werden, damit ihr später dieses Land regiert, und die sozialistische Weltrevolution in die kommunistische Vollendung führt.
Nicht nur an der Schule, auch im privaten Leben war der Staat präsent. So gab es in meiner Kindheit in der Straße wo ich wohnte einen ABV (Abschnittsbevollmächtigter). Er trug Uniform, aber keine Waffe, und kontrollierte alles, was in der Straße so passierte. Wenn man am 1. Mai dem Kampftag der Arbeiterklasse (so hieß dieser Tag in der DDR) keine DDR-Fahne aus dem Fenster hing, konnte es schon passieren, daß dieser ABV mal an der Wohnung klingelte und fragte, wo das Problem denn sei, ob mein jetzt keine Flagge zur Hand hätte, oder demonstrativ das heraushängen der Flagge verweigere, um seine staatsfeindliche Gesinnung zu bekunden.
An einem Tag in der 9.Klasse kam ich mal mit einem kleinen selbstgebastelten Kreuz um den Hals zur Schule. Die Schuldirektorin ermahnte mich und erklärte dies für nicht hinnehmbar, da diese Schule eine sozialistische Bildungseinrichtung sei, und schon Karl-Marx wusste: Religion ist Opium für das Volk und somit Sache der imperialistischen, revanchistischen, kapitalistischen Kriegstreiber des Westens. Das Gespräch endete mit der Frage, ob ich noch treu zu den sozialistischen Errungenschaften des ersten freien Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden stehe, oder ob man mir bei der weiteren Ausbildung und Entwicklung meiner Persönlichkeit zukünftig intensiver „helfen“ müsste. Am nächsten Tag kam ich kreuzlos zur Schule.
Bevor ich zur nächsten Frage komme, hier noch eine ältere Schulerinnerung.
Ort: Schulhof, große Pause, 5-6 Klasse. Ein aufsichtsführender Lehrer rannte plötzlich schreiend quer über den Hof, schnappte sich einen Schüler und riss ihm sein T-Shirt am lebendigen Leibe in Fetzen. Ich verstand seine Worte nicht, sah jedoch das Shirt. Irgendwie ähnelte es der amerikanischen Flagge.
Na ja, wir waren noch Kinder. Ich spürte, der Staat ist überall und allmächtig.
Er passt auf uns auf. Er sieht alles.
Wenn im Sportunterricht Weitwurf dran war, warfen wir nicht mit Bällen oder Ähnlichem, sondern mit dem Nachbau der russischen F1-Splitterhandgranate. Oder mit einer Imitation der Panzerabwehrgranate M-10. Ab der 9. Klasse gab es an der Schule den Wehrsportunterricht. Dabei ging es nicht nur um Sport im Sinne der persönlichen Verteidigung, sondern auch und vor allem um eine militärische Grundausbildung für den Fall eines Krieges. Die Ausbildung an echten Waffen (KK-Kategorie/Kleinkaliber) war ab der 10. Klasse dort inklusive.
Zusammengefasst: die DDR musste gar nicht in meine Schulzeit „eingreifen“. Sie war die Schule.
Foto: Übungshandgranaten aus dem DDR Sportunterricht.
Frage: Trug die staatliche Struktur zu Ihrem Pessimismus bei?
Mein damaliger zeitweiliger Pessimismus war meine Reaktion auf die Welt um mich herum, und keine innerliche Einstellung zum Leben im allgemeinen. Ich stellte mir und meiner Umgebung Fragen. Fragen wie: wo sind alle die Ideale, mit denen ich erzogen wurde in der Wirklichkeit jetzt zu finden? Die strenge staatliche Struktur war in dieser Lebensphase, die auch altersbedingt eine Phase der vielen Fragen ist, keine Hilfe.
Wohngemeinschaften, alternative Projekte, Freiraum um sich selbst zu entwickeln und zu entdecken,
bot die „staatliche Struktur“ nicht an. Eine mich begleitende Familie gab es in meinem Fall auch nicht.
Der Staat selbst bot nur eines an: sei für uns oder gegen uns. Und somit, bei letzterem, ein Staatsfeind. Eine magere Auswahl, also war meine Entscheidung erst einmal PUNK zu werden, und eine Warteposition einzunehmen. Pessimist auf Zeit, bis sich eine Zukunft ergibt.
Frage: Welchen Einfluss hatte der aus heutiger Sicht unrechtmäßige Gefängnisaufenthalt auf Ihr Leben?
Mein Gefängnisaufenthalt war aus meiner Sicht auch schon damals unrechtmäßig. Mir wurde ein Verstoß gegen den DDR-Paragraphen 214 vorgeworfen, welcher verbot die Tätigkeit staatlicher Organe zu beeinträchtigen. Bei meinen ersten Vernehmungen frug ich, wie ich durch sitzen, schminken und Zeitung lesen, welches staatliche Organ wo beeinträchtigt hätte. Die Antwort war folgende: „ Dadurch, daß sie Herr Michelus sich in der Öffentlichkeit so benommen haben, daß ein normaler Volkspolizist sich gezwungen sah sie zu verhaften, konnte besagter Volkspolizist seiner normalen Kontrolltätigkeit nicht mehr nachkommen, wodurch sie ihn in seiner Kontrolltätigkeit beeinträchtigt haben.“ Diesen Satz muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
Man kann diesen Schachtelsatz so zusammenfassen: Der Grund für ihre Verhaftung ist ihre Verhaftung. Kafka würde daraus einen Roman zaubern, oder wenigstens eine Novelle ;)
Stellt euch mal vor, nächste Woche trefft ihr euch mit Freunden auf der Königsstraße in Stuttgart, euer Handy ist leer und Google-Maps babela. Ihr seht einen Polizisten und fragt ihn nach dem Weg. Der Polizist dreht sich zu euch um … und verhaftet euch. Warum? Weil ihr ihn durch euer Verhalten in seiner Kontrolltätigkeit beeinträchtigt habt. Es hätte ja sein können, daß in dem Augenblick, wo er sich zu euch umdrehte hinter seinem Rücken ein Unfall passiert, den er dann „verpasst“ hätte. Das ist die Logik von § 214. Also keine Logik. Es war ein „Gummiparagraph“.
Fotos: Zeitungsaktion und Verhaftung
Aber ich schweife jetzt ab, deine Frage war eine Andere. Mein Gefängnisaufenthalt veränderte mein Leben radikal, da ich im Gefängnis einen Ausreiseantrag stellte, und dadurch direkt aus der Zelle in die BRD ausreiste. Bei meiner Ankunft im Westen hatte ich also das dabei, was ich bei meiner Verhaftung anhatte. Hose, Hemd, Sandalen und eine Ausbürgerungsurkunde der DDR. Mehr nicht.
Deshalb weiß ich, wie es jedem Flüchtling heute geht, der hier ankommt. Man ist innerlich absolut alleine und fremd.
Frage: Erzählen sie bitte von den Zuständen im Gefängnis.
Während meiner einjährigen Haftzeit lernte ich fünf verschiedene Gefängnisse mit unterschiedlichen Zuständen kennen. Ich wusste gar nicht, daß es so viele Haftzustände gab. Untersuchungshaft, Isolationshaft, Arresthaft, Wartehaft, Transporthaft, Vollzugshaft, Abschiebehaft …
Jede Haftform hatte ihre speziellen Zustände.
Untersuchungshaft:
Meine dreimonatige Untersuchungshaft war gleichzeitig auch Isolationshaft. Das hieß kein Besuch, kein Kontakt zu anderen Gefangenen (es sei denn man saß in einer Zweierzelle wie ich), kein Radio, kein Fernseher und keine Briefe. Man war für die Außenwelt einfach „weg vom Fenster“. Der dadurch entstehende psychische Druck war bei mir enorm. Ich hatte das Gefühl des absoluten ausgeliefert seins. Es war ein Gefühl der Verzweiflung, das über bloße Einsamkeit weit hinaus ging. Ich hatte auch keinen Namen oder wenigstens eine Häftlingsnummer. Die Wärter, die mich mehrmals am Tag zu den Vernehmungen brachten, sprachen mich nur mit „rechts“ oder links“ an. Je nach dem, ob ich in der Zweierzelle im rechten oder linken Bett lag. Nur die Vernehmer nannten mich beim Namen.
Ich fühlte mich als ein absolutes Annonymum. Irgendwie existent, aber dann auch doch nicht.
In der Untersuchungshaft gab es eine spezielle Nachtkontrolle in den Zellen. Die Wärter schalteten von außen alle 15 Minuten das Zellenlicht an, sahen durch den Spion in die Zelle und machten dann das Licht wieder aus. Sie überwachten die nächtliche Einhaltung der Hausordnung, und die legte fest, daß der Gefangene sich mit dem Gesicht zur Tür zu legen hatte und beide Hände sichtbar oben auf der Decke lagen. Man sollte also schlafen, als ob man in einem Sarg läge. Wer schläft schon so?
Sobald man einschläft dreht man sich zur Seite, kämpft mit seinem Kopfkissen und liegt irgendwann sonstwie da. Sah dies der Wärter, öffnete er die Luke der Zellentür und schlug mit seinem Knüppel so lange darauf bis man wach war. Darauf folgte der in die Zelle gebrüllte Satz:
„Links (rechts) ordnungsgemäß hinlegen!“.
Die Folge war, daß man nachts alle 15-30 Minuten geweckt wurde. Also permanenter Schlafentzug.
Möglichkeiten mit anderen Gefangenen Kontakt auf zu nehmen und das Gefühl zu haben, man sei nicht völlig allein an diesem Ort gab es drei. Die Erste war das „Rufen“ in den Zellenhof, was schwierig war, da die Zellen keine Fenster hatten. Statt dessen gab es zwei Reihen Glasbausteine mit jeweils oben/außen und innen/unten einem kleinen Schlitz, damit wenigstens etwas Luft in die Zelle strömte.
Die Zweite war das „Morsen“ über Heizungsrohre oder Wände. Beide Möglichkeiten waren riskant da laut, und die Wärter dies bemerken konnten. Wurde man bei dieser „illegalen Kontaktaufnahme“ von ihnen erwischt, ging es runter in den Keller (Arresthaft). Ich war nie dort unten, hatte aber Phantasien darüber.
Die Dritte Möglichkeit war das „Telefonieren“ über die Kloschüsseln. Ich selber habe in der Untersuchungshaft nie „telefoniert“, da ich erst später, aus dem Knast entlassen, von diesem dritten Weg erfuhr. Im Prinzip ging es dabei darum, daß man sein Zellenhandtuch in das U-förmige Unterteil des Klos stopfte, wieder herauszog und auswrang. Das wurde solange wiederholt, bis der U-Teil wasserfrei war. Tat dies der Gefangene in der Nachbarzelle auch, das wurde vorher über „Morsen“ vereinbart, konnten beide ihre Köpfe in die Kloschüssel stecken und sehr leise miteinander reden. Ohne dabei die Aufmerksamkeit der Wärter zu erregen.
Zum Ende der Untersuchungshaft erlebte ich meine erste Scheinhinrichtung, die keine war, sich aber so anfühlte. Die Vernehmungen schienen abgeschlossen und ich wartete in meiner Zelle auf die Gerichtsverhandlung. Plötzlich ging die Zellentür auf und ich hörte: „Rechts (links) anziehen! Raustreten! Stopp! Gesicht zur Wand! Weiter!“ Der Wärter holte mich offenbar noch einmal zu einem Verhör. (Nachvernehmung? Warum eigentlich? Die Sache war doch durch.)
Ich kannte inzwischen den Weg zu den Verhörräumen im oberen Trakt des Gebäudes. Diesmal ging es jedoch nach unten in Richtung Keller. Haben die mich beim „Morsen“ erwischt, fragte ich mich. Eine Tür wurde vom Wärter aufgeschlossen, begleitet von „Reintreten! Gesicht zur Wand!“. Mit gesenktem Kopf, wie vorgeschrieben bei „Umschlüssen“ und „Bewegungen“, betrat ich die neue Zelle. Ich hob den Kopf und erstarrte. Die Zelle war höchstens 1m x 1,5m groß und gegenüber war noch eine andere Tür.
Die Eingangstür rummste hinter mir ins Schloß. Ich war wieder alleine. Diese Zelle war seltsam. Kein Bett, kein Klo, kein Waschbecken, keine Glasbausteine als Fensterersatz. Sie war absolut leer und neutral. Ich schaute mir neugierig die zweite Tür an, als hinter mir die Eingangstür aufflog, ich vor Schreck herumfuhr und den Wärter wiedersah, welcher im selben Augenblick seine Pistole aus dem Halfter zog und sie, mir vor die Nase haltend, durchlud (Ich dachte ... jetzt dreht der durch … wärste mal kein Punk geworden (?)… falsch: ich dachte gar nichts ... wer glaubt vor dem Tod gehen Filme ab, irrt sich. Da ist Nichts. Nur Zeitlupe und ein Lauf in den man starrt). Der Wärter steckte seine Pistole wieder ein „Bei Fluchtversuch wird ohne Vorwarnung geschossen.“ bemerkte er. Danach ging es in den Gefängnishof, wo ein Transporter wartete. Es ging zur Gerichtsverhandlung.
Diese zwei Sekunden des Umdrehens und das Geräusch einer sich durchladender Waffe werde ich nie vergessen.
Allgemein und abschließend: die Untersuchungs-/Isolationshaft empfand ich als Folter an meiner Seele. Die Zellen waren etwa 2m x 3,5m groß. Für zwei Personen.
Wartehaft:
Nach meiner Verurteilung gab es keine Vernehmungen mehr. Ich kam zur Wartehaft in eine anderes Gefängnis. Dort wartend auf einen Transport in irgendeine Vollzugsanstalt. Das Warten war Luxus.
Keine Vernehmungen mehr. Keine nächtlichen Lichtorgien. Kein Druck. Alles schien erledigt.
Die totale Isolation zur Außenwelt und anderen Gefangenen blieb jedoch weiterhin aufrecht.
Transporthaft:
Die nächsten Tage verbrachte ich in Transporthaft in ein nochmal anderem Gefängnis. Es schien kein Stasi-Gefängnis zu sein, sondern ein „Normales“. Das erste mal nach ca. vier Monaten sah ich andere Gefangene. Wir waren zu acht in einer Zelle und begrüßten uns überschwänglich wie alte Bekannte. Jeder kam wie ich aus einer längeren Isolationshaft. Es war ein Freudenfest. Das Gefängnis selbst, war marode und von Kakerlaken verseucht. Die Wärter waren übelster Art und mehr als schlecht gelaunt, was sie uns auch wissen ließen.
Vollzugshaft:
Der darauf folgende normale Vollzug in einem Gefängnis außerhalb Berlins hieß: 18 Mannzelle mit Dreistockbetten, Pflicht zur Arbeit im Dreischichtsystem und Wärtern mit Spitznamen wie „Arafat“, „Texas“ und „Roter Terror“. Die Spitznamen waren Programm und ich weiß bis heute nicht, wer von denen der größere Psychopath war. Geistig gesund war jedenfalls keiner von ihnen. In den Arbeitsschichten stellte ich Gehäuse für Fotokameras der DDR-Marke „Praktika“ her, die über den Quelle- oder OTTO-Katalog auch im Westen verkauft wurden.
Foto: Vollzugshaft in Cottbus – 18 Mannzelle
Abschiebehaft:
Nach neun Monaten Haft stellte ich im Gefängnis einen Ausreiseantrag. Als dieser bewilligt wurde, kam ich in Abschiebehaft in ein Gefängnis im Süden des Landes. Dort gab es keine Arbeitspflicht und ich bekam zum ersten mal zivile Kleidung. Also die Klamotten, die ich bei meiner Verhaftung anhatte.
Die Wärter waren nahezu freundlich bis zuvorkommend. Kein Gebrüll mehr und keine Androhung von Gewalt. Ich spürte, ich waren jetzt was Besonderes. Eine zum Verkauf bestimmte Ware, mit der man viel Geld verdienen konnte, indem man mich als politischer Häftling vom Westen freikaufen ließ.
Fast hatte ich schon Narrenfreiheit dort.
Frage: Wie wurde in der Schule über die BRD gesprochen? Wo gab es überall politische Propaganda?
Politische Propaganda war in der DDR nicht nur in den Medien, sondern auch im Alltag und auf der Straße allgegenwärtig. Agi-Prop (Agitation und Propaganda) war sogar eine eigene Musikrichtung.
In Ost-Berlin konnte man keine dreihundert Meter weit laufen, ohne auf ein großes Transparent zu stoßen. Darauf standen dann Dinge wie „Für Frieden und Sozialismus. Erfülle den Fünfjahresplan“.
Ich selbst war ab der 9. Klasse Agitator der FDJ (Freie deutsche Jugend; die staatliche Jugendorganisation der DDR) in der KOL-Abteilung der Klasse (KOL = Klassenorganisationsleitung).
Meine Aufgabe bestand darin politische Agitation und Propaganda in meiner Schulklasse auszuüben.
Das hieß, meine Mitschüler durch politische Diskussionen und Gespräche „auf Linie“ zu bringen.
Der Spitzname meiner Mitschüler für mich war in dieser Zeit die rote Socke. Es war liebevoll gemeint, fast schon mitleidig. Mein Idealismus wurde eher belächelt, aber akzeptiert, da ich ansonsten recht bodenständig und trotzdem verträumt war.
Als FDJ-Agitator wurde ich dann in der 11. Klasse von der Schulleitung abgesetzt, weil ich in der Schulpause zum Besuch einer „Bluesmesse“ aufrief. Die Bluesmesse war eine Musikveranstaltung in einer Kirche und stand somit per se unter dem Verdacht der Staatsfeindlichkeit.
Foto: Bluesmesse in Ost-Berlin
Wie wurde in der Schule über die BRD gesprochen? Erstmal viel mir auf, daß es nie Bundesrepublik Deutschland hieß, sondern immer nur die BRD, während es verpönt war von der DDR zu sprechen, statt von der Deutschen demokratischen Republik. Meine Lehrer vermittelten mir ein einfaches Weltbild, wenn es um die BRD ging. Das ging in etwa so: nach dem Zusammenbruch der dritten Reiches flüchteten alle Nazis in den Westen, während in der DDR Wiederstandkämpfer, die das KZ-Buchenwald überlebten, die antifaschistische DDR aufbauten. In der BRD regieren imperialistische Kriegstreiber und bei uns das Volk. Die BRD wurde mir als Feindbild verkauft und nicht als ein Teil
Deutschlands, mit dem man je wieder etwas zu tun haben wollte. Und, ach ja: wer in der BRD arbeitslos wird, landet nach fünf Minuten unter einer Brücke und ist nach sieben Minuten heroinabhängig. Das in etwas war das Niveau.
In der 11. Klasse hatten wir mit unserem Klassenlehrer mal ein Diskussion zum Thema Umweltschutz.
Das bedurfte von uns Schülern Fingerspitzengefühl. Es war schwierig im Unterricht über Umweltschutz zu reden, da es offiziell in der DDR keine Umweltverschmutzung gab, und jeder der was anderes behauptete dem „Klassenfeind“ auf den Leim ging und offenbar zu viel Westfernsehen schaute. Trotzdem sagte ich in einer dieser Diskussionen: Herr Klassenlehrer, ich war zum Urlaub im Erzgebirge und sah die Bäume dort. Die sehen nicht mehr gut aus. Er antwortete: wenn im Erzgebirge tatsächlich einige Bäume krank sein sollten, dann liegt das an der schlechten Luft die von der BRD zu uns rüber kommt. Ich weiß bis heute nicht, ob mein Klassenlehrer das ernst meinte, oder nur seine Ruhe haben wollte. Der Grundtenor beim Thema BRD war: alles Böse kommt aus dem Westen.
Gott sei Dank war bei den naturwissenschaftlichen Fächern der Schule der Anspruch der Lehrer höher.
Diese vereinfachende Gedankenwelt, diese Aufteilung in Gut und Böse, in schwarz und weiß, war einer der vielen Gründe, warum ich die Schule in der 12. Klasse, verließ. Ich konnte nicht begreifen, warum Atombomben gut sind, wenn wir sie haben und schlecht sind, wenn die anderen sie haben.
Für mich bedeuteten Atombomben die Vernichtung der Welt über Grenzen hinweg. Nichts sonst.
So ein Gedanke führte in der DDR jedoch schnell zu der Frage (von ungebetenen Gästen):
Stellen sie etwa die Verteidigungsbereitschaft unserer sozialistischen Errungenschaften in Frage ?
Frage: Wie kam es zu Ihren Protesten und Ihrer Kritik gegenüber der DDR?
Wie wird man erwachsen? Wie lernt man die Welt kennen? Wie wird man ICH?
Indem man beobachtet. Indem man Fragen stellt. Indem man denkt. Indem man experimentiert.
Indem man ausprobiert was geht und was nicht. Indem man eigene Erfahrungen sammelt.
Indem man scheitert. Indem man gewinnt. Indem man erobert. Indem man verliert.
Für all das braucht man einen Freiraum. Wo war der in der DDR? Ich fand ihn als angehender Jugendlicher und später junger Erwachsener nicht. Wo Raum für mich sein sollte, waren Mauern.
Nicht nur an der deutsch-deutschen Grenze, auch in den Köpfen der Erwachsenen.
Mein Protest war also erst einmal auch ein Protest der Jugend gegen das Alte.
Das Politische kam später, und war einer Diktatur geschuldet, die kein „anders sein“ zuließ.
Beispiel: ich gehe in einen Laden und der Verkäufer brüllt mir ins Gesicht: Raus hier, dich hat man vergessen zu vergasen. Und das alles, weil ich zu dieser Zeit gerade etwas punkig aussah. Oder eine Lehrerin schreibt in einen Bericht über mich: „... ich glaube, daß er sehr bösartig ist.“
Nur weil ich einmal mit grünen Haaren zur Schule kam. Was hält man dann, mit 18 Jahren, von der Welt in der man lebt ? Da muss man ja in die „Kritik“ gehen, will man das Ganze überleben.
Als potentieller „Führer der Kader von morgen“ (da war ich 15 Jahre alt und noch die „Rote Socke“),
las ich nicht nur in der Schule, sondern auch privat, die Klassiker des Sozialismus: Lenin, Karl-Marx, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht … ich wusste also um was es geht. Es war der Klassenkampf.
In der DDR fand ich jedoch eher einen Bürokraten-Krampf vor. Und einen Sumpf verkappter Nazis die, laut meiner Lehrer, eigentlich alle im Westen sein sollten.
Insofern war meine innerliche und später äußerliche Opposition auch ein „Protest“ gegen den Verrat an Idealen, mit denen meine Lehrer mich zupumpten. Und es war ein Protest gegen ein System, daß
sich weigerte mir ein eigenes selbstbestimmtes Leben zuzugestehen.
Warum also mein Protest und meine Kritik in/an der DDR? … Weil ich leben wollte !!!
Foto: von Harald Hauswald; S-Bahn in Ost-Berlin (Zukunft seht anders aus)
Frage: Haben Sie Ihre „Tat“ bereut?
Nein. Es gab keine „Tat“. Nur ein Leben. Ich nahm es an, und lebte.
Bereuen würde ich Dinge, die ich unter Zwang getan hätte. Ich würde bereuen, mich zu etwas hätte hinreißen zu lassen, was ich nicht will. Dies war nicht der Fall. Alles was ich tat, war freiwillig und kam von Herzen. Wenn auch manchmal … na ja, dumm und naiv war ich schon.
Aber auch das ist ein Recht.
Frage: Was ist Ihnen besonders wichtig, uns von dieser Zeit mitzugeben?
Gegenfrage: was ist euch besonders wichtig, aus meiner Zeit an Erfahrungen für euch „abzuholen“?
Ihr wisst über die Welt und die Menschen mehr als ich damals. Ihr habt Internet. Ihr habt Wikipedia, und ihr seit mit Sicherheit nicht dümmer als ich. Was kann ich euch trotzdem mitgeben, was man nicht googeln kann? Es ist meine Erfahrung, daß das Leben so ziemlich das gigantischste Erlebnis ist, welches man als Mensch haben kann. Last es euch nicht nehmen. Probiert es einfach aus.
Wichtig dabei ist, daß ihr euch dabei selber treu bleibt, auch wenn die halbe Welt gegen euch ist.
Es ist egal, denn letztendlich müsst ihr irgendwann euch selbst gegenüber Rechenschaft für euer Leben abgeben. Und nicht die Welt.
Ich habe 20 Jahre in einer Diktatur verbracht und 33 Jahre in einer Demokratie. Und ich kann euch versichern, Demokratie ist einfach angenehmer. Sie ist jedoch kein Naturgesetz.
Sie ist, die europäische Geschichte der letzten 300 Jahre betrachtend, ein sehr junges Pflänzchen, daß jeden Tag gegossen und gepflegt werden will. Bitte gießt sie!
Oder um es mit den Worten einer Ostdeutschen Lokalpolitikerin zu sagen:
„Demokratie ist anstrengend, dauert lange und bringt nicht viel. Aber ist das Beste, was wir je hatten.“
Frage: Was bedeutet die DDR heute für Sie?
Sie ist der Ort meiner Kindheitserinnerungen. Ein Ort, der nur noch in Gedanken besucht werden kann. Und sie ist ein Fallbeispiel dafür, daß Albert Einstein recht hatte, als er einmal sagte:
„Zwei Dinge sind unendlich: das Universum und die Dummheit der Menschen. Beim Universum bin ich mir jedoch noch nicht ganz sicher.“ Denn es ist einfach dumm, ein neues Land mit vielen Idealen aufzubauen, Kinder zu zeugen, und dann die Kinder einzusperren, weil man Angst hat, sie könnten irgendwann die Ideale ernst nehmen und sie leben wollen. Die DDR ist für mich und heute ein gutes Beispiel dafür, wie man es einfach NICHT macht, wenn es um „Weltrettung“ geht.
Mein ausführlicheres Lebendsresümee über die DDR findet ihr auf meiner Internetseite. Der Text dort heißt: „Brief an einen Kommunisten.“ (www.michelus.net/texte/brief-an-einen-kommunisten)
Frage: Erzählen Sie bitte von der Stasi. Was haben sie mitbekommen?
Was sind meine frühesten Erinnerungen an das Wort Stasi?
In der fünften oder sechsten Klasse gab es im Unterricht eine neues Schulfach. Es hieß Staatsbürgerkunde. Abgekürzt „Stabü“ sollten wir dafür, während des Unterrichts bei unseren Klassenlehrer, in unseren Schullehrplanheft (Wochenplaner) eintragen. Aus irgendwelchen Gründen schrieb ich jedoch „Stasi“ statt „Stabü“ hinein. Keine Ahnung warum, denn ich kannte das Wort bis dahin gar nicht. War wohl eher ein Schreibfehler. Mein Schulfreund, der neben mir saß und das sah, zischte zu mir rüber: bist du wahnsinnig, streich das aus, das gibt Ärger. Ich tat es und erinnere mich noch heute an den Klang seiner Stimme. Es war Angst. Obwohl er wie ich noch ein Kind war, wußte er offenbar etwas, was ich nicht wußte. Mit dem selben Schulfreund geriet ich später einmal beim Cowboy & Indianer spielen im Hof in einen heftigen Streit. Ich weiß nicht mehr, um was es genau ging, aber irgendwie verteidigte ich offenbar die DDR. Mein Freund war mir verbal, intellektuell und wissenstechnisch haushoch überlegen, doch ich muß so hart gewesen sein, daß er mir irgendwann heulend ins Gesicht schrie: du hast doch keine Ahnung, wie es ist, wenn es früh um vier an der Tür klingelt. Dann lief er weg. Ab nach Hause.
Heute, 40 Jahre später, ich bin immer noch in Kontakt mit besagtem Schulfreund, weiß ich, was er als Kind zu Hause erlebte. Er wusste damals ganz genau, was die Stasi war und welche
Ohnmacht sie verbreitete. Aber das ist wieder eine andere Geschichte, gegen die meine Eigene sich ausnimmt wie ein billiges Unterhaltungsprogramm.
Das sind meine ersten Erinnerungen an die Stasi. Ich schrieb ja weiter oben, daß ich mich damals nicht besonders beobachtet vorkam, da ich ja nur eine kleine Leuchte im Gesamtsystem sei. Warum sollte mich die Stasi überwachen? Als ich jedoch nach dem Zusammenbruch der DDR Einsicht in meine Stasi-Unterlagen bekam, erfuhr ich folgendes: am 13. August habe ich ja mit meiner damaligen
Freundin diese „Zeitungs-Aktion“ durchgeführt, welche zu meiner Verhaftung führte. Meine Beteiligung an dieser Aktion, die eigentlich eine Aktion meiner Freundin war, war völlig spontan und wurde von mir erst Minuten vorher entschieden. In den Stasi-Unterlagen taucht jedoch eine „Einlieferungsanweisung“ für mich und meine Freundin auf. Sie trägt das Datum des 10. August. Das heißt, drei Tage vor meiner „Tat“, wo ich noch nicht einmal selber wußte, daß ich etwas vorhaben würde, ging schon der Haftbefehl gegen mich raus. Die Stasi hatte mich also schon auf dem Schirm und ich wäre so oder so verhaftet worden. Auch wenn ich nichts gemacht hätte. Warum? Ich weiß es bis heute nicht. Vielleicht kannte ich einfach nur die falschen Leute. Übrigens der Spitzname im Volksmund der DDR für die Stasi war: „Firma Horch & Kuck“.
Foto: Stasiunterlage mit „Einlieferungsanweisung“ vom 10.08. (drei Tage vor der „Tat“)
Frage: Wie kamen Sie zur Idee mit der Zeitung?
Es war die Idee meiner Freundin. Sie wollte ja ausreisen, ich damals noch nicht, und plante am 13. August (dem Tag des Mauerbaus 1961) ein „Provokation“ zu starten, um daraufhin verhaftet zu werden, damit sie später, aus dem Knast, von der BRD als politischer Häftling freigekauft wird.
Aber wie stellt man das an und ist dabei noch künstlerisch kreativ? Antwort: indem man sich in der Fußgängerzone auf die Erde setzt, das Gesicht mit weißer Schlemmkreide schminkt, die Augen mit rotem Lippenstift umrandet und aus der DDR-Zeitung namens „Neues Deutschland“ die Titelzeile
Neues Deutschland herausreißt und über den Kopf hält. Ja, Provokation war in der DDR noch recht einfach;) Die Idee mit dem „Neues Deutschland“ gefiel mir. Auch ich wollte ein neues Deutschland.
Eines, daß nicht so ist, wie die DDR und eines, daß auch nicht so ist wie die BRD. Irgendwas dazwischen. Das Beste aus beiden Welten. Eine Alternative zu Hardcore-Kapitalismus und kommunistischer Diktatur.
Frage: Wurden Sie von der BRD freigekauft? Was wurde bezahlt?
Ich wurde freigekauft. Mein Preis wurde mir nicht genannt. Nach Auskunft des damaligen Innerdeutschen Ministeriums sollen es jedoch ca. 60.000 DM gewesen sein. Der Freikauf soll jedoch nicht immer ein Bargeld-Geschäft gewesen sein. Gezahlt wurde offenbar auch in Form von Rohstoffen wie Erdöl, Kupfer usw.
Frage: Nach dem „Übersiedeln“ in die BRD, wie ging es weiter?
Nach dem zentralen Auffanglager für Flüchtlinge in Gießen und später Rastatt, landet ich im Flüchtlingsheim in Balingen in Baden-Württemberg. Ich war völlig verwirrt und traumatisiert und hätte eigentlich eine Therapie gebraucht, jedoch hatte ich Angst im Westen unterzugehen. So war keine Zeit für therapeutische Kuschelkurse und ich besorgte mir erst einmal eine Ausbildung zum Fotolaboranten/Fotografen. Ich kannte im Westen ja niemanden und musste zusehen, daß der Kühlschrank jeden Abend irgendwas hergab. So weit zur Physis. Psychisch schlief ich keine Nacht länger als zwei Stunden durch. Die Knast-Albträume verhinderten dies. Praktisch war ich morgens nach dem aufwachen noch fertiger, als abends vor dem zu Bett gehen. Ich war einfach nur durch den Wind. Um mich selbst zu retten, mal wieder, zog ich in eine alternative WG ein, um Menschen um mich zu haben, die nicht den ganzen Tag Geld zählten.
Der Westen war für mich ein totaler Kulturschock. Alles, und wirklich alles, schien sich hier nur um ein Zahlungsmittel zu drehen, daß eigentlich mal nur den Tauschhandel von Waren erleichtern sollte, hier jedoch zum Gott unter Göttern erhoben wurde. Die Menschen in der BRD waren mir anfangs völlig fremd, mit Ausnahme einiger WG-Freaks.
Die Ausbildung brach ich ab, jobbte ein wenig herum, um meinen Führerschein zu machen (wenigstens EINE Ausbildung, dachte ich damals), und begann eine Lehre als Schreiner. War aber auch nix. Doch dann kam die Chance: ich wurde Chefkoch (ohne Ausbildung) eines Restaurants in einem größeren alternativen Projekt auf der schwäbischen Alb. Die Devise dort hieß, wer eine Dose Linsen unverletzt öffnen kann, darf hier auch mal an den Herd. Das war meine Rettung. Ich war dort frei, selbstständig und mein eigener Chef. Und das Alles auch noch mit alternativen Weltverbesserungsansprüchen, da die Küche vegetarisch und Öko war, was 1993 in Deutschland fast schon als Vorstufe zum linksradikalen Terrorismus galt ;)
Nach 10 Jahren war auch da Schluss, und die Schulden hielten sich in Grenzen.
Nachdem ich dann für eine NGO (Nicht Regierungsorganisation) ehrenamtlich in Ruanda, Kongo, Kroatien und Bulgarien unterwegs war (Motto: wenn die Welt nicht in Deutschland zu retten ist, dann
vielleicht woanders), und auch dort kläglich scheiterte, weil ich nicht begriff, was Bestechungsgelder mit Kinderhilfe zu tun haben, landete ich als Hilfskraft an einem Theater in Stuttgart.
Dort erwarb ich, in der Fernschule, meine erste abgeschlossene Berufsausbildung als Fachkraft für Veranstaltungstechnik. Da war ich 50 Jahre alt (geht also, wenn man dran bleibt).
Foto: M.Michelus 2001 in Ruanda als Entwicklungshelfer für eine NGO
Ich bin heute immer noch froh in der BRD zu leben, denn alle diese Möglichkeiten der letzten 30 Jahre meines Lebens, hätte ich in der DDR nie gehabt.
Frage: Wie kam es dazu, dass gerade Sie freigekauft wurden? Es wurden bestimmt nicht alle,
die aus solchen Gründen einsaßen freigekauft, oder?
Im Knast lernte ich ältere Menschen kennen, die schon zum zweiten oder dritten mal einsaßen, und trotzdem nicht freigekauft wurden. Die hatten schon 3-5 Jahre auf dem Buckel. Bei mir dauerte es vom Ausreiseantrag bis zum Freikauf drei Monate. Warum? Ich weiß es nicht. Deine Frage können wohl nur die Stasi und die verhandelnde Anwälte in Ost und West beantworten. Mein Anwalt damals war Gregor Gysi, ich schrieb ihn mal an, auf der Suche nach Antworten. Er äußerte sich nicht zu diesem Thema.
Frage: Ist das heutige Deutschland, daß Deutschland, daß sie sich gewünscht hatten?
Was meine persönliche Freiheit angeht: ja. Im heutigen Deutschland stehe ich jedoch auch im Supermarkt vor einem Regal und sehe sechs laufende Meter Kartoffelchips verschiedenster Sorten,
und frage mich: was ist das? Alles ist da und von allem so viel, daß es mich ratlos macht.
Aber ich muß das ja nicht „mitmachen“. Heute habe ich die Freiheit nein zu sagen, ohne das es deswegen früh um vier an meiner Haustür klingelt. Ich genieße das. Heute denke ich, gerade im internationalen Vergleich hat Deutschland einen guten Kompromiss zwischen persönlicher Freiheit und sozialer Sicherheit, die immer einen Staat erfordert, gefunden.
Jedoch die maximale Fixierung vieler Bürger auf persönlichen Konsum (Ich kaufe, also bin ich) ist schon enorm.
Vor kurzem las ich mal wieder im Grundgesetz der BRD. Es ist erstaunlich, welche Werte und Ideale
dort für uns als Gemeinschaft niedergeschrieben wurden. Fast hatte ich den Eindruck, ich lese gerade ein Flugblatt von Che Guevara ;).
Ich lebe gerne in Deutschland, frage mich jedoch, wer hier noch das Sagen hat. Ist es der von mir gewählte Abgeordnete im Bundestag, oder der aktuelle DAX-Index, der, von mir unbekannten und von mir nicht gewählten, Aktionären bestimmt wird?
Was die, inhaltlich rein religiös-christlich gehaltene, Sendung „Das Wort zum Sonntag“ in einer staatlichen öffentlichen Sendeanstalt zu suchen hat (wo ist hier die Trennung von Kirche und Staat?),
ist mir auch ein Rätsel. Ich sähe dort lieber „Das Wort zum Grundgesetz“. Dann wird vielleicht einigen Bürgern wieder klar, daß wir in Deutschland ein Asylrecht haben, und sich die Diskussion darüber erübrigt. Asyl ist nämlich keine gewährte Gnade oder Entscheidung. Es ist ein Recht.
Klar würde dann vielleicht auch einigen Gewerkschaftsvertretern wieder, das Männer und Frauen gleichgestellt sind, und sie sich fragen lassen müssen, warum sie es in den letzten 50 Jahren nicht geschafft haben durchzusetzen, daß Frauen für die selbe Arbeit auch den selben Lohn kriegen.
Länder verändern sich und Menschen auch. Sicher ist das heutige Deutschland nicht das, was ich mir vor 40 Jahren gewünscht hatte. Die gute Nachricht ist jedoch: ich darf heute laut darüber nachdenken. Denn eines ist klar, wenn ich obige Gedanken und Kritiken in der DDR geäußert hätte, wäre das gut für locker 3 Jahre ohne Bewährung gewesen. Heute „droht“ mir dafür höchstens ein Shitstorm.
Aber damit kann ich leben.
Zum Ende noch eine kleine Geschichte und Erinnerung meinerseits:
Nach einem meiner DDR-Zeitzeugenvorträge an einer Schule gab es danach ein Gespräch zwischen mir und den Schülern. Sehr viele Fragen hatten die Schüler. Sie saugten alles von mir auf, und ich mußte sehr auf die Wahl meiner Worte achten. „Stimmt es wirklich, daß das Leben mit 30 Jahren aufhört, und es deshalb keinen Sinn macht, älter als 30 zu werden?“ wurde ich zum Beispiel gefragt, als die Schüler erfuhren, daß meine damalige Freundin, mit der ich die Zeitungsaktion durchführte, mit 30 Jahren Selbstmord beging, und diesen schon mit 22 Jahren ankündigte, da sie genau davon zutiefst überzeugt war (gute DDR-Zeitzeugenvorträge sind für mich ja immer Vorträge, die hinterher in eine „Lebensberatung“ ausarten). Irgendwann mischte sich auch die Lehrerin der Schüler ein und fragte: Haben Sie Herr Michelus vielleicht auch Fragen an die Schüler?
Ich fragte: Was macht ihr eigentlich Freitags? Und dann ging es erst richtig ab. Selbst Schüler, die bis dahin sich kaum am Gespräch beteiligt hatten, erzählten plötzlich von ihren Ängsten, Hoffnungen, von ihrer Suche nach einer optionalen Zukunft. Es war gigantisch. Ich erfuhr von den Schülern genauso viel, wie sie von mir. DAS war meine wirkliche „Bezahlung“ (statt die 100€, die ich für jeden Vortrag von einer Berliner Stiftung bekomme). Schlagartig wurde mir klar, was mir eigentlich auch schon vorher klar war, ich jedoch nochmal daran erinnert wurde: jeder, der behauptet die jungen Leute von heute würden völlig verblöden, weil sie nur noch auf ihre Handys starren, und zu geistlosen Konsummonstern heranwachsen, irrt gewaltig. Und eines wurde mir besonders klar: die haben ja heute die selben Sorgen, wie ich damals. Die sind wie ich. Zum Abschluss fragte ich in die Gesprächsrunde:
„Ich habe noch eine letzte Frage an euch. Stimmt es, also das ist meine Vermutung oder Gefühl, daß ihr heute so viele Entscheidungsmöglichkeiten habt, daß ihr Angst davor habt euch überhaupt zu entscheiden, weil ihr nach drei Monaten feststellen könntet, daß eine andere Entscheidung vielleicht besser gewesen wäre, und ihr euch deshalb erst gar nicht entscheidet?“
Plötzlich Stille im Raum (Freez-Modus). Bis eine junge Dame, welche sich bis jetzt überhaupt nicht an den Gesprächen beteiligte ihren Kopf hob, und an mir vorbei an die Wand schauend hauchte:
„Genau so ist es … ihr Worte sind … sie haben das gut formuliert“.
Da saß ich dann. Alle diese Freiheiten, von denen ich damals träumte und heute genieße, waren für die jungen Menschen im Jahre 2020 ein Problem. Es war einfach zu viel für sie.
Ihnen ging es bei ihren Lebensentscheidungen, wie mir vor dem Kartoffelchips-Regal.
(Ich habe damals übrigens keine Chips gekauft … konnte mich einfach nicht entscheiden ;)
Seit dem wünsche ich mir an deutschen Schulen ein neues Unterrichtsfach:
Wie gehe ich mit Freiheit um? Ohne das sie mich erschlägt oder lähmt.
Liebe Schüler,
ich hoffe eure Fragen damit weitreichend, persönlich und nicht all zu trocken beantwortet zu haben. Ihr habt gute Fragen gestellt, und mir hat es Spaß gemacht mich mit ihnen zu beschäftigen. Ich hoffe, ihr könnt dieses Jahr euer Abitur machen (ihr seit doch 12. Klasse?).
Gerade erlebt ihr, wie eine Gesellschaft, die auf maximalen Konsum und Schnelligkeit ausgerichtet ist,
von 100 auf 0% runtergebremst wird, wegen einem Virus der komischer Weise nach einem mexikanischen Bier benannt wird. Nutzt ihr und eure Familie und Freunde diese Auszeit für eine Denkpause (Christen würden sagen: innere Einkehr), um darüber nachzudenken, worum es im Leben eigentlich geht. Worum es EUCH geht (und nicht den Anderen).
Wenn ihr positive Informationen über die Entwicklung der Welt und ihrer Menschen sucht,
findet ihr sie hier: https://ourworldindata.org/
Abschließend noch zwei Links zu Dokumentationen zum Thema Jugend und Punks in der DDR, welche ich empfehlen kann, da sie sehr authentisch mein/unser Lebensgefühl in der DDR der '80er Jahre darstellen:
https://www.youtube.com/watch?v=BKGZBHWjJVI
https://www.youtube.com/watch?v=9o8bT2nGmc0
Last not least hier meine Erinnerung an die Ankunft eines Ossis im Wessi-Wunderland.
So und jetzt lasse ich euch in Ruhe ;))) Viel Glück bei euren weiteren Wegen.
Euer DDR-Zeitzeuge ...
... Mike Michelus